Über Traditionen zu sprechen, heißt aus Traditionen zu lernen. Dieses Lernen macht jedoch wenig Sinn, wenn kaum TRANSFER erfolgt. Wir meinen damit, dass die Ergebnisse dieser großem genossenschaftlichen VORDENKER nicht in ihrer Zeit verhaftet bleiben können, sondern von uns allen die Mühe erwartet wird, dieses geistige Gut in die JETZT-ZEIT zu übertragen. Formulieren wir dazu vielleicht eine entsprechende Frage: "Was würden diese Vordenker des Genossenschaftsgedankens uns heute empfehlen?"
Eine solche Frage mag für viele nicht angenehm klingen, würde das doch zugleich heißen, das gesamte - aktuell vorfindbare - Genossenschaftswesen, sozusagen auf den berühmten Prüfstand zu stellen. Und welchen Fragen könnten sich dann vielleicht die zeitgemäßen Herren Raiffeisen und Schulze-Delitzsch wohl zu stellen haben? Versuchen wir einige naheliegende zu finden:
Was mag der Grund sein, warum es in Deutschland nur etwa 6600 Genossenschaften gibt, während zugleich (geschätzt) über 50.000 Unternehmen (mit Sitz in Deutschland) als Limited und über 1 Million Unternehmen als GmbH firmieren (das Statistische Amt, das nur ab einer Umsatzgröße erfasst, spricht zwar nur von der Hälfte bei den GmbHs - verlässliche Zahlen gibt es kaum) Wie auch immer genau die Zahlen sein mögen, dies spielt weniger eine Rolle, uns geht es mehr auf die Zahlen der Genossenschaften, und die sind alles andere als "beeindruckend" ...
Was ist in der Schweiz anders als in Deutschland? Würde man die Genossenschaftsdichte der Schweiz (Einwohnerzahl in Bezug auf die Anzahl der Genossenschaften) auf Deutschland übertragen, müsste es in Deutschland gut 130.000 (!) Genossenschaften geben.
Warum ist das Genossenschaftswesen in Ländern wie Frankreich, Italien, Spanien, Tschechien, Polen, England (um nur einige zu nennen) so vital, so verankert im Bewusstsein der Bevölkerung, aber auch ungleich besser im Staat berücksichtigt, als dies in Deutschland der Fall ist.
Warum wird bei Unternehmens-Gründungsberatungen und bei Übersichten zur "Wahl der geigneten Unternehmensform" noch immer die Genossenschaft quasi ausgeblendet, sogar von den öffentlich rechtlichen Kammern?
Die Fragenkette ließe sich leicht fortsetzen. Tun wir auch, aber jetzt in eine andere Richtung....
Woran mag es liegen, dass Raiffeisen- und Volksbanken so wenig in Richtung Genossenschaften (zu gründen) beraten und empfehlen? (Das zumindest ist ein oft gehörtes Argument und lässt sich sicherlich nicht auf alle R+V-Banken übertragen)
Und versuchen wir es weiter: Geben wir in einem Such-Portal, z.B. bei Google den Begriff "vorteilhafte Girokonten" ein, dann müssten man eigentlich vermuten, dass an den ersten 10 oder gar 20 Stellen nur Genossenschaftsbanken auftauchen, weil die doch den gesetzlichen Förderauftrag als "Genossenschaft" haben ... - Versuchen Sie es selbst, machen Sie den GenoTest ....
Woran mag es liegen, dass Genossenschaften (noch) nicht die spannendste, wegweisende Unternehmens-Philosophie haben, die quasi alle anderen Unternehmensformen in den "Schatten" stellen würde.
Weswegen sind Genossenschaften nicht die begehrlichsten Unternehmen ("Arbeitgeber"), wo jeder/jede Beschäftigte sich hindrängelt, um besonders dort tätig zu sein.
Warum haben Genossenschaften noch nicht (zumindest nicht wahrnehmbar) auf sich aufmerksam machen können, wenn es um die attraktivsten Arbeitsbedingungen geht, gute Verdienste und bestes Betriebsklima.
Spitzen wir es zu:
Wann wird es sein, dass Genossenschaften im Wirtschaftsleben unter Beweis stellen, dass KOOPERATION und GEMEINSCHAFT zu den Formen des Wirtschaftes gehören, die am Effektivsten, Sinnhaftesten und Fortschrittlichesten sind, sozusagen für nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit stehen?
Man würde es sich zu einfach machen, jetzt von "Nestbeschmutzung" zu sprechen oder nach Gründen zu suchen, dass Geschehen kleinlich zu verteidigen bzw. zu rechtfertigen. Sollte es uns gelungen sein, Verbände, Institute, Organisationen und engagierte Menschen herausgefordert zu haben, kommen wir auf den richtigen Kurs und kommen dem Anliegen des "alten" Raiffeisen und Schulze-Delitzsch näher. Diese in die heutige Zeit versetzt, hätten sicherlich einiges zu sagen. Wir sind ziemlich sicher, dass sie uns kaum widersprechen würden ...
Versuchen wir also gemeinsam und selbstkritisch das ewige "Putzen" der Gedenksteine zu beenden und heben die sehr verdienstvollen Herren und Damen des Genossenschaftsgedankens in die Gegenwart. Nur so können wir die richtigen Antworten geben auf eine tragisch-komische Entwicklung des deutschen Genossenschaftswesens: Einstmals ein Land der genossenschaftlichen VORDENKER mit weltweiter Bedeutung, die Gründer-Generation genossenschaftlichen Handelns, die Raiffeisens und Schulze-Delitzschs .... und heute? Im europäischen Ausland quasi verspottet als "genossenschaftliches Entwicklungsland" ...
Das schmerzt? Vielleicht, hilft aber nicht weiter. Betrachten wir diese Bestandsaufnahme einfach als eine lohnende Herausforderung für alle, einschließlich derjenigen, die in direkter "Nachfolge-Tradition" zu den großen Meistern des deutschen Genossenschaftswesen stehen ...